Aufschwung Alt bringt Arbeit

Forum Literatur: Arnulf Rating bietet im Heppenheimer Kurfürstensaal Hochgeschwindigkeitskabarett

HEPPENHEIM. Gefundenes Fressen für einen Kabarettisten, wenn die Technik im nahezu ausverkauften Kurfürstensaal des Heppenheimer Amtshofs versagt und die Scheinwerfer den Geist aufgeben. Da greift man doch spontan zu, zumal das bestens ins Programm passt, wenn die Lichter ausgehen, wegen koreanischer Technik, eines Anschlags, oder weil Biblis kaputt ist.

Der hünenhafte Arnulf Rating, promovierter Politkabarettist aus Berlin und 2003 mit dem Deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet, greift in seinem Programm „Reich ins Heim“ den Zustand der Gesellschaft lokal, national und global auf und erbittert an. Er geht in seinem topaktuellen, zweistündigen Solo (die Denkpause nicht mitgerechnet) konsequent der Frage nach, was unter den desolaten Umständen aus Heppenheim, „einer der lieblichsten Städte“, wird.

Ob es 2008 schon polnisch ist, ob es überhaupt „so alt wird wie es heute schon aussieht?“ Um die Probleme zu analysieren und Deutschland zu sanieren, beruft er einen Expertenrat. In Anlehnung an die sonntäglich Christiansen-Show, diese „Gerontologenfraktion, die nur knapp das Ende der Sendung überlebt“, nehmen sich Fachleute der Frage an, ob überhaupt eine Regierung gebraucht wird.

Monatelang wurde nicht regiert und es ging gut: die Arbeitslosenzahlen sanken. Und warum wählten die Deutschen so falsch? Die Experten kennen und benennen die Ursachen und auch die Lösung. Moderator Berger (alias Rating) schlägt sich da mit Typen herum, die, ein jeder auf seine Weise, die Fakten belegen und für ihre Lösungen argumentieren. Mit unterschiedlichen Brillenfassungen, ausgefallener Gestik und Mimik sowie regional gefärbtem Sprachduktus karikiert Rating seine Gesprächspartner: die deutsche Polit-Elite.

Wilfried Majowski, ehemaliger Treuhänder, Aufbauhelfer Ost und ein unerträglicher Schwadronierer, sieht als einzige Chance den Abbau von Personal, die Veräußerung des Westens oder zumindest die Schließung unprofitabler Abteilungen wie Sachsen, Meck-Pomm oder das Saarland. Heppenheim soll allerdings ausgenommen sein, da es ja hier um Menschen geht.

Sein Gegenspieler ist Mark P. Großhäuser-Lenzig, ein dynamischer Optimist: Positive Inputs und frische Denke sind angesagt. Lokal: Erlebnisshopping in Heppenheim; national: Kleinkunst- und Kurzwarenwochen mit Pastor Fliege und global: Olympic Games 2024 – die bringen Deutschland ganz nach vorne. Sein Motto ist: Fun, Fashion, Fingerfood, dazu „solide cash“, clevere Mischfinanzierung und City-Maut auch für Heppenheim.

Nicht ganz so forsch ist der penible Demoskop aus dem Ruhrpott. Er will Leute „da abholen, wo sie sind“. Aber wo sind sie, die zu 44,6 Prozent nicht mal wissen, was eine Zweitstimme ist, die die Vertrauensfrage so missverstanden, dass sie glaubten, es handele sich um eine Miss-Wahl? Und von denen 78,7 Prozent nicht wissen, wo Heppenheim liegt, oder vermuten, es sei ein Ikea-Regal.

Ein abgehalfteter Achtundsechziger, den’s überall juckt, und der fortwährend popelt, erregt sich echt über die auf „gebrezelte Ostschrulle“ genauso wie über Claudia Roth, die Frauenquote oder die Tatsache, dass er als Gründer des Diskriminierungsausschusses selbst nicht rein kommt, „nur weil ich ein Mann bin, weiß, hetero, ohne große Behinderung und jüdische Großmutter“. Rundum respektlos lässt Arnulf Rating nichts und niemanden ungeschoren. Ob als bezopfte Krankenschwester Hedwig, die die Prominenten hinter den Fernsehkulissen fit spritzt, die 4000 Lobbyisten in Berlin, die „Bandenwerbung“ für Politiker nahelegen.

In Aufmachern der Bildzeitung entdeckt Rating mit Hilfe einiger gut informierter Gäste – etwas zu ausführlich, aber umwerfend komisch – abgründige Zusammenhänge.

Das einzige Wertpapier, das wir noch haben, der Personalausweis, wird teurer, obwohl rein gar nichts dabei rauskommt, und man nicht mal mehr lächeln darf. Wahrscheinlich deshalb, weil es pro Kopf mit 17 600 Euro Staatsschulden belastet ist, die sich um zwei Euro täglich erhöhen. Arnulf Ratings Rat in seinem siebten Soloprogramm: jeder zahlt seine Kopfpauschale, dann hört das auf. Wer nicht zahlt, fliegt einfach raus aus der Deutschland AG.

Überhaupt, warum soll man sich noch aufregen? „Das Alter ist unsere Zukunft, unsere Chance“. Die kämpferischen Alten stehen vor der Machtübernahme. Und Heppenheim als Pflegestandort wird gerettet: Es wird zum Rudi-Dutschke-Altenheim umfunktioniert. „Der Aufschwung Alt“ schafft Arbeitsplätze, enormen Konsum von Herzschrittmachern oder Hüftgelenkspfannen und Mut: „He Alter, du bist Deutschland – lass uns gemeinsam unsterblich werden.“

Rating bietet gesellschaftskritisches Hochgeschwindigkeitskabarett, das von seiner Aktualität, überraschenden Wortspielen, spitzen Pointen und überspitzt dargestellten Charakteren lebt, jedoch auch Kalauer und Klamauk nicht auslässt.

Julia Richter

© Echo Online, 24.01.2006