Herbst in Deutschland

… nach einem Jahr Große Koalition

Herbst in Deutschland. Was für ein Land! Die freundliche Serviererin bringt noch ein Tablett mit Cafe latte nach draußen, wo es früher nur Kännchen gab. Sie macht es gern, es ist ihr Minijob. Und es ist warm. Sehr warm. Dafür sind wir lange Jahre extra Auto gefahren, damit wir jetzt diese globale Wärme genießen können.

Was für ein Land! Es ist Halloween und es ist ein Jahr ganz, ganz große Koalition. Ein Land im permanenten Auslandseinsatz kurz vor der Mehrwertsteuererhöhung und der vierten Pflegestufe der Gesundheitsreform.

Hunderttausende stehen auf der Straße und protestieren für Arbeit. Millionen liegen auf der Straße und sagen nichts. Im Kühlschrank erfriert schon mal ein Kind. Und der Siemens-Chef verschenkt seine Gehaltserhöhung an seine entlassenen Mitarbeiter.

Es fing doch so gut an: eine Frau als Kanzlerin. Dann noch aus dem Osten, aus Templin. Eine von uns. Von ganz unten. Aus dem Herzen des Prekariats. Mit gigantischen Sympathiewerten gestartet. Und nun? Ein Land verwest von melierten Mittelschichtlern, von ewig mitgehangenen Pofallas, Söders und Heils – ein Ganzjahres-Halloween-Grinskabinett von emsigen Generalsekretären, denen man ansieht: Sekretär kommt von Sekret. Und zwischen all dem geistert der vor Jahresfrist abgekanzelte Schröder wie ein Untoter über alle Mattscheiben und Magazine. Er war es, sagt er, der seiner entscheidungsschwachen Nachfolgerin und ihrer Chaos-Koalition das gebremst sozialdemokratische Programm diktiert hat, das wir jetzt erleben dürfen. So versucht der Altkanzler mit viel Wind, aufgepumpt mit Russengas und heißer Luft einen letzten Aufstieg, macht sich noch einmal davon in ungeahnte Höhen, bläht sich auf in dünner Luft, bis er platzt und über Hannover endlich niedergeht. Basta. Ein letzter Auftrieb nicht erneuerbarer Energie, während Nachfolgerin Merkel mit der billigen Strahlkraft einer verlängerten Restlaufzeit versucht, atomar dagegen zu halten.

Was für ein Land, wo nicht einmal die Kanzlerrente und die Zuwendungen vom Gasscheich Putin zum Überleben reichen. Da muss sich der alte Acker Schröder noch mit Schreiben über Wasser halten.

Ja, die Kanzlereuse Merkel hat recht: Wir müssen uns anstrengen, mehr für die Alten und Kranken tun. Machen wir die Gesundheitsreform. Und sind nicht Männer wie CSU-Frankenführer Söder dafür genau die Richtigen? Söder, ein Mann, der Sparpotentiale überall sehen kann, der Hartz IV-Empfängern gern den Urlaub streichen will – in seiner Heimatstadt Nürnberg ist man sogar schon weiter: Dort haben offensichtlich Mitarbeiter des Bestattungsamtes planmäßig Zahngold von Verstorbenen entwendet und weiterverkauft. Ein Durchbruch in der medizynischen Versorgung noch über den Tod hinaus.

Ja, es gibt noch Sparpotential. Wieso braucht ein älteres Ehepaar zwei Gebisse? Erst recht, wo sie sowieso nichts mehr zu beißen haben. Und auch in diesem Kurs steckt, wie wir an der Börse gerne sagen, noch viel Phantasie drin. Bildet Altersgruppen: Ein Gebiss. Und zehn Adapter.

Und wenn von Kindern in China genähte Turnschuhe uns bis ins hohe Alter fit halten – die Ersatzzähne, die sie mit ihren flinken Fingern formen, tun das auch. Schließlich hat der Chinese das Porzellan erfunden. Und er kann auch die Tauschorgane liefern. Frisch aus eigener Hinrichtung. Im Gegenzug liefern wir das Know-How unserer todsicheren Transrapid-Technologie. Gehen tut alles. Man muss die Themen nur nüchtern und frei von ideologischen Vorurteilen anpacken.

Die freundliche Minijobberin kettet die Stühle draußen an und geht rein. Die bunten Blätter fallen und bedecken die Unterschicht. Es wird hartz in Deutschland.

Bleiben Sie übrig.

© MDR FIGRAO, gesendet am 27.10.2006

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